Der Gebäudekomplex der Reichenberger Straße 114, Berlin-Kreuzberg, besteht aus Vorderhaus, Seitenflügel, Quergebäude und Fabrik.
Das Haus war Ende der 80er Jahre in seinem sehr schlechten Zustand. Mehrere Wohnungen standen leer, bzw. waren unbewohnbar. Einzelne Etagen der Fabrik wurde seit Anfang der 80er Jahre von Wohngemeinschaften angemietet. Pro Forma waren das gewerbliche Verträge, aber der damalige Besitzer gestattete von Anfang an per mündlicher Absprache die Wohnnutzung. Die restlichen Etagen des Fabrikgebäudes wurden Anfang der 90er ebenfalls bezogen. In den Vorderhäusern wurden einige leerstehende Wohnungen 1988 besetzt. 1990 kaufte der Filmproduzent Artur Brauner das Gebäude. Mit ihm schlossen die ehemaligen Besetzer*innen Mietverträge ab.
Zwischen 1991 bis 1995 wurden Vorderhaus, Seitenflügel und Quergebäude im Rahmen der behutsamen Stadterneuerung mit öffentlichen Mitteln saniert und eine Mietpreisbindung vereinbart, die bis 2015 galt. Während dieser Jahrzehnte wurde nichts getan um das Fabrikgebäude instand zu halten. Dafür sorgten in Eigeninitiative allein die Bewohner*innen und ihre Freund*innen. So retteten sie das Fabrikgebäude vor dem Verfall.
Nach einer Zwangsverwaltung von 2006 bis 2008 verkaufte Artur Brauner das Gebäude an die TuAr GmbH, diese verkaufte weiter an die Akershus Immobilien GmbH. 2012 gründeten die Bewohner*innen des Fabrikgebäudes den Verein „KiezVision″ und verhandelten mit Akershus über den Kauf des Fabrikgebäudes mit Unterstützung des Mietshäuser-Syndikats. Bei den Verhandlungen vermittelten der damalige Bezirksbürgermeister Franz Schulz und Katrin Schmidberger (MdA). Akershus entschied sich jedoch gegen dieses Modell und verkaufte alle vier Gebäudeteile an die Berlin Aspire Real Estate GmbH. Das erklärte Ziel dieser Firma war es, Vorderhaus, Quergebäude und Hinterhaus in Eigentumswohnungen umzuwandeln und einzeln profitabel zu verkaufen. Das seit Jahrzehnten bewohnte Fabrikgebäude wollte Berlin Aspire entmieten. Dagegen wehrten sich die Bewohner*innen vehement, denn sie wollen ihr Zuhause nicht aufgeben.
Ende 2017 gab Berlin Aspire seine Pläne auf und verkaufte das Haus im Rahmen eines „Share Deal″ an die Akelius GmbH. Mit Hilfe des Share Deal nutzen Immobilienkonzerne eine Gesetzeslücke aus um beim Immobilienverkauf die Grunderwerbssteuer und das Vorkaufsrecht der Kommunen bzw. Bezirke zu umgehen. Das Geschäftsmodell von Akelius basiert auf maximaler Ausnutzung des Spielraums bei Mieterhöhungen und auf forcierten Modernisierungen, die es erlauben die gesetzliche Mietpreisbremse außer Kraft zu setzen. Wohin die Reise gehen soll, zeigt folgendes Beispiel im Mietshaus gegenüber: In der Reichenberger Straße 72A bot Akelius eine Erdgeschosswohnung von 28 m² für 850 € (30,36 €/m²) an!
Wofür steht der Verein KiezVision?
Wir Bewohnerinnen und Bewohner der Reichenberger Straße 114 praktizieren unkonventionelle, basisdemokratische, selbstorganisierte Lebensformen; viele von uns sind in der LGBTIQ-Szene verwurzelt. Immer wieder war die Reichenberger Straße 114 Anlaufstelle und Zufluchtsort für Menschen, die aus verschiedensten Gründen struktureller Diskriminierung ausgesetzt waren, insbesondere für Menschen, die kein Dach über dem Kopf hatten und / oder aus anderen Ländern hierher geflüchtet waren.
Unsere Maxime ist: Selbstorganisierung der freien Entfaltung für alle Menschen – unabhängig von ihrer Finanzstärke – anstatt Kommerzialisierung aller öffentlichen und privaten Räume.
Wir und unser Verein KiezVision begreifen uns als Teil der progressiven Bewegung, die auf verschiedensten Ebenen dieser Maxime folgt und die in den vergangenen Jahrzehnten den Stadtteil Kreuzberg zu einem bunten, vielfältigen, lebendigen Ort gemacht hat: völlig anders als die immer gleichen, durch und durch kommerzialisierten Downtowns anderer Weltstädte. Das hat Kreuzberg weltweit bekannt gemacht und nur deswegen zieht es heute immer mehr Menschen aus aller Welt hierher.
Gentrifizierung
Ein beklagenswerter Nebeneffekt davon ist die Gentrifizierung, die in Kreuzberg in vollem Gange ist. Aufgrund der historischen Besonderheit Berlins, sind über 80% aller Wohnungen Mietwohnungen, die Boden- und Immobilienpreise vergleichsweise niedrig und die Stadt hoch verschuldet. Die internationalen Finanzkrisen und die Niedrigzinspolitik veranlassen Kapitalbesitzer, die Kreuzberger Grundstücke zu kaufen und auf steigende Immobilienpreise zu spekulieren. Die Mieten steigen ins Unermessliche. Die bisherigen Bewohnerinnen und Bewohner können es sich nicht mehr leisten und werden vertrieben. Öffentliche Räume werden kommerzialisiert. Die bunte, vielfältige Lebendigkeit verschwindet und wird durch Fressmeilen und Einkaufsstraßen ersetzt. Dem Stadtteil wird das Einheitsgesicht weltstädtischer Downtowns übergestülpt. Eine tragische Entwicklung! Denn das, was maßgebliche Akteure des Prozesses angezogen hatte, wird nun völlig zerstört.
Wir halten dagegen und ersetzen die Marktlogik durch folgende Grundsätze:
Langfristig wollen wir das Haus der Immobilienspekulation entziehen. Ein Konzept ist in Arbeit, das verhindern soll, dass das Haus oder Teile davon immer wieder aufs neue mit Gewinn verkauft werden.
Ein Großteil der Wohnungen soll an die WBS-Berechtigung gebunden werden.
Unser Solidarisches Nachbarschafts-Konzept beruht auf langjährigen Nachbarschaften und Freundschaften, dem regelmäßigen intensiven Austausch und umfangreicher gegenseitiger Hilfe, dem starken Interesse am gemeinschaftlichen Leben, der ausgeprägten Toleranz untereinander und anderen Menschen gegenüber.
Wir wollen eine bunte Mischung mehrerer Generationen und aller denkbaren Lebensformen in großen und kleinen Wohngemeinschaften, Familien und auch Einzimmerwohnungen leben. Zusammen wollen wir verschiedene Gemeinschaftsflächen nutzen und die unterschiedlichen Wohnstrukturen im Haus miteinander verknüpfen. So kann beispielsweise eine ältere Einzelperson mit Anschluss an eine Wohngemeinschaft leben oder zwei Familien sich eine Gemeinschaftsküche teilen.
Die leerstehende Bäckerei und weitere Flächen wollen wir als öffentliche Räume zur Verfügung stellen für selbstorganisierte, nicht kommerzielle Projekte und Initiativen auf sozialer, künstlerischer, politischer und soziokultureller Ebene.
Wir wollen einige Wohnungen, die schon jetzt leerstehen oder in Zukunft frei werden, Menschen in Not als Belegwohnungen zur Verfügung stellen, gerne in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Die ehemalige Bäckerei oder ein anderer Raum im Haus soll in diesem Zusammenhang als Beratungsstelle genutzt werden.
Gemeinsam mit vielen anderen progressiven Kräften fordern wir: Solche Grundsätze braucht dieser Kiez, dieser Bezirk und diese ganze Stadt. Wir streben eine nachhaltige Umkehr an – weg von der weiteren Verschärfung der sozialen Frage und hin zum sozialen Frieden!